Ein Projekt von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger, konzipiert von Katharina Lackner und Julia Stoff
im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024
Bad Ischl I Salzkammergut, 21. Juni 2024
Der Bahnhof Landungsplatz in Ebensee entgleist im Kulturhauptstadtjahr und wird zu einem Ort für handfeste, selbstbestimmte Fantasie: eine laute Einladung an alle – vor allem an Kinder und deren Erwachsene – Vögel und andere Flugwesen zu erfinden und deren Ausrottung entgegenzuwirken. Das international renommierte Schweizer Künstlerpaar Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger startet eine räumliche Erzählung aus Vogelperspektive. Ein zauberhafter Anfang, dessen Ausgang offen ist; „vogelfrei“ ist eine ortsspezifische, partizipative Mixed-Media Installation aus Schwemmholz, Fundmaterialien, Werkzeugen und Sound. Die Installation bietet Platz für wundersame Wesen, die vor Ort erdacht und gebaut werden können. So entsteht und wächst in Ebensee, an einem Ort, wo viele nach wie vor der Tradition des Vogelfangs nachgehen, eine wilde Lockvogelwelt, bewohnt von hinterhältigen Turteltäubchen und schüchternen Aasgeiern, organisierten Hühnern und verliebten Drachen, Kakadus, Kolibris und frechen Gimpeln, eisigen Zeisigen, hungrigen Schmatzen, preisgekrönten Stieglitzen und fantastischen Kreuzschnäbeln, von Bürgermeisen und Ebenseeglern, ungeduldigen Alpenpapageien, weitgereisten Galgenvögeln und großzügigen Elstern, von Zizibes, Birigös und noch unentdeckten Schwärmern.
Die ehemalige Gaststätte der Bahnstation Landungsplatz Ebensee wird zum Zentrum für anarchische und ornithologische Vielfalt. Keiner weiß, wie die von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger konzipierte Installation am Ende aussehen wird und wie sich die Fantasie der neugierigen und gestaltungsfreudigen Besucher*innen in die Arbeit einschreiben werden. Aus einem großzügigen Angebot an gefundenen und lokalen Materialien, die zum Mitgestalten einladen, entsteht eine begeh- und bespielbare Installation, die Staunen lässt und zum Ausprobieren anregt. Denn: Wer die Vögel ruft, zeigt Mut zur Wildnis.
Vom Vogelfang zu „vogelfrei“
Vögel haben in Ebensee seit hunderten von Jahren einen ganz besonderen Stellenwert, seit 2010
zählt die nach wie vor gelebte Tradition des Vogelfangs zum Immateriellen Kulturerbe der
Menschheit. Im Kulturhauptstadtjahr öffnet sich jedoch der Blick von den üblichen vier Verdächtigen,
von Erlenzeisig, Stieglitz, Gimpel und Fichtenkreuzschnabel, zu allen möglichen, vorstellbaren und
unvorstellbaren, schönen, schrägen und komischen Vögeln. Mit „vogelfrei“ laden Gerda Steiner &
Jörg Lenzlinger alle ein, die einen Vogel haben oder noch einen suchen – vor allem Kinder und
ihre Erwachsenen. Sie alle können die gefiederten Wesen erfinden, bauen, hegen und pflegen.
Die kreierten Flügeltiere locken immer neue an und versammeln sich zu einem flatterhaften Aufbruch.
In Ebensee, da ist der See, das ist das Salz und die Arbeit, da sind die Berge – und mittendrin der
Landungsplatz. Durch das verdunstende, aufsteigende Wasser verbindet sich die Landschaft mit dem
Himmel in einem Kreislauf, der überall auf der Welt zu finden ist. Die Vögel vermitteln zwischen Boden
und Himmel; sie sind spielerische Körper, Symbole für Freiheit und Fantasie – ein federleichtes
Dazwischen. Sie locken, sind Boten und kurzweilige Gäste, die wieder weiterziehen – viele von ihnen
führen seit jeher ein planetarisches Leben.
Vögel bauen ihre kunstvollen Nester aus Materialien, die sie in ihrer Umwelt, im Umkreis ihres
Bewegungsraums finden. Lautlos machen sie Fragen zu Suffizienz erlebbar: Was ist genug und was
ist zu viel? Wen brauche ich und wer braucht mich? Brauche ich das Brauchen? Muss ich alles
können? Muss ich alles wissen? Weiß ich, was ich tue, wenn mir niemand sagt, was zu tun ist?
Schon vor ihrem Beginn sind alle eingeladen, sich an der Installation zu beteiligen: Das „vogelfrei“
Team bindet Bildungseinrichtungen, Vereine und andere Gruppierungen aktiv ein, um die Artenvielfalt
der Wesen für den Landeplatz zu initiieren. Die Bevölkerung ist eingeladen, Gefundenes,
Gesammeltes und überflüssig Gewordenes wie Kunstpflanzen, Stickereien, Spielsachen,
Schuhsohlen, Plastikobjekte, Geräte aller Art, Kleider, Werkzeug, Schmuck, Besteck, PET-Flaschen
und Naturalien wie Äste, Tannenzapfen, Trockenpflanzen, Moos oder große Samen als
Rohmaterialien beizusteuern, aber auch Vogelfiguren oder ausgestopfte Vögel, die weiterbearbeitet
werden dürfen. Ein fliegendes Portrait von Objekten und Geschichten aus Ebensee.Kontakt „vogelfrei“
Suffizienz
Genug liegt zwischen Zuviel und Zuwenig, zwischen Überfluss und Mangel – das gilt für Zeit, für
Dinge, für Raum, für Ideen und für Angebote. Tiere nehmen sich, was sie brauchen, nicht mehr, nicht
weniger. Vögel bauen ihre Nester aus Materialien, die sie in ihrer Umwelt finden. Nebenbei machen
sie Fragen zu Suffizienz spürbar: Was ist genug und was ist zu viel? Wen brauche ich und wer
braucht mich? Brauche ich das Brauchen?
Zyklisches Denken
Vögel sind Boten zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister. In Finnland stellen
Menschen einen hölzernen Seelenvogel ans Bett. Er soll verhindern, dass die Seele in Träumen
verloren geht. Vögel durchqueren die Räume zwischen den Sternen und den Toten. Sie sind
vielgestaltig und ursprungsnah – und sie kommen zweimal auf die Welt: einmal als Ei und einmal als
Küken. Vögel sind Mittler:innen zwischen Anfang und Ende, Verwalter:innen von Ursprüngen,
zuständig für Geburt, für Untergang und Tod. Ihr zyklisches Dasein steht unserem linearen Denken
entgegen.
vogelfrei und Anarchie
Vögel bewegen sich frei zwischen Himmel und Erde. Wie kein anderes Tier stehen sie für Freiheit. Am
Ende des Mittelalters (zu Beginn der Neuzeit) bekam „vogelfrei“ eine schreckliche Bedeutung. Es war
der Begriff für Menschen, die man aus der Gesellschaft verbannte. Ohne Rechte waren sie den
Gefahren der Natur und den Angriffen wilder Vögel schutzlos ausgesetzt. Ursprünglich meinte das
Wort aber frei wie ein Vogel – diese Bedeutung möchten wir den Vögeln zurückgeben.
Welt ohne Vögel
Wir leben im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier vor sechzig Millionen Jahren.
Besonders Vögel sind bedroht. Seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts sind achtzig Prozent der
heimischen Arten verschwunden. Fast die Hälfte aller in Mitteleuropa brütenden Vögel ist gefährdet.
Die Welt wird vogelfrei.
Vogelexpert*innen in Ebensee
Der Vogelfang im Salzkammergut ist seit hunderten von Jahren gelebte Tradition und seit 2010
UNESCO-Kulturerbe der Menschheit. Deshalb wohnen in dieser Region, besonders in Ebensee, eine
große Zahl Vogelexpert*innen. Jeden Herbst werden die Vögel gefangen. Ende November prämiert
man die schönsten Exemplare. Anschließend überwintern sie in großen Volieren. Mitte April entlässt
man die Vögel wieder in die Freiheit. Im Kulturhauptstadtjahr feiern wir die üblichen vier Verdächtigen
– Stieglitz, Gimpel, Kreuzschnabel und Zeisig –, und dazu die ganze, wilde, bunte Vogelschar!
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger
Zusammenarbeit seit 1997
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger erzeugen mit ihren ortspezifischen Arbeiten stimulierende, amüsante
und frappierende Amalgame aus Organischem und Anorganischem. Sie schaffen installative
Atmosphären, in denen sich Wechselwirkungen und unvorhersehbare Koexistenzen einstellen. Die
Zuschauer*innen sind eingeladen, in ein fantastisches Universum einzutauchen oder an Experimenten
teilzunehmen, die ihre Sinne und ihren Geist wecken. Die ebenso beunruhigenden wie bezaubernden
Installationen der Künstler knüpfen Verbindungen zwischen antagonistischen Welten und schlagen
vor, das seltsame Labor des Lebendigen mit seiner Biodiversität zu beobachten und Vorstellungen
von Fruchtbarkeit und Wachstum zu hinterfragen. Sie plädieren für poetisch inspirierende Symbiosen,
Mischungen statt Monokulturen, systemische Interaktionen und das Ernstnehmen der Schönheit von
Komplexität und Diversität.
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger
„Falling Garden” „Brainforest”
San Staë church on the Canale Grande 21st Century Museum of Contemporary Art
50th Biennial of Venice, 2003 Kanazawa (Japan) 2004
www.steinerlenzlinger.ch
©Martin Lengauer